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Das Grüne Schweigen
Rubrik

Das Grüne Schweigen Eine Bundesdelegiertenkonferenz ohne das Selbstbestimmungsgesetz

ms - 14.10.2022 - 16:00 Uhr

Kommentar

In diesen Minuten startet in Bonn die Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90 / Die Grünen. Nach drei digitalen Parteitagen werden sich die Delegierten dieses Mal wieder physisch treffen und allseits ist die Freude innerhalb der grünen Partei darüber sehr groß. Bis einschließlich Sonntag wird mit Sicherheit das eine oder andere Mal hitzig diskutiert werden, die Themen rund um Energiekrise, Atomausstieg und Tempolimit versprechen spannende Diskussionen. Gefordert wird unter anderem von der grünen Basis, den Atomausstieg trotz Energiekrise eisern durchzuziehen, ein Tempolimit von 100 km/h auf deutschen Autobahnen sowie 80 km/h auf Landstraßen, ein Sonntagsfahrverbot alle zwei Wochen oder auch eine Steuererhöhung für Reiche und eine Steuererleichterung auf vegane Produkte. Trotz Stimmenzuwachs bei der letzten Landtagswahl in Niedersachsen zeigen sich immer mehr Menschen in der Bundesrepublik unzufrieden mit der Ampel-Koalition (Forschungsgruppe Wahlen), laut der jüngsten repräsentativen Umfrage im Auftrag des Magazins Focus traut eine Mehrheit von rund 54 Prozent der Deutschen der aktuellen Regierung nicht mehr zu, in Zukunft gemeinsame Krisenlösungen zu finden.

So hitzig die Diskussionen werden dürften, aus Sicht der LGBTI*-Community wird die spannendste Debatte erst gar nicht geführt: 70 Parteimitglieder hatten im August einen Antrag gestellt, angesichts von massiven Streitigkeiten und vielen offenen Fragen noch einmal sachlich und frei von Diffamierungen über das geplante neue Selbstbestimmungsgesetz sprechen zu wollen. Kaum online gestellt, hatten sich die 70 Grünen-Mitglieder massiven Angriffen stellen müssen, wurden als rechtsextrem und transphob beschimpft und man legte ihnen nahe, den Antrag wieder zurückzuziehen – wohlgemerkt alles Stimmen aus der eigenen Partei. Schlussendlich landete der Antrag beim sogenannten V-Ranking, der Abstimmung, welche Punkte tatsächlich besprochen werden sollen, auf dem vorletzten Platz und schied aus. 317 Grüne wollten insgesamt darüber diskutieren, die restlichen Parteimitglieder offenbar nicht. Die Bundeszentrale der Partei schwieg weitestgehend zu den digitalen Angriffen auf Parteimitglieder.  

So viele Fragen, so groß das Schweigen

Das ist insofern bemerkenswert, weil die Fragen rund um das geplante Gesetzesvorhaben immer lauter werden: Werden Jugendliche ab 14 Jahren nun ohne oder nur mit Einwilligung der Eltern eine Geschlechtsanpassung beim Standesamt durchführen lassen können? Während Justizminister Marco Buschmann im Sommer erklärte, Minderjährige sollen dies künftig nur mit den Eltern oder dem Familiengericht tun, bekräftigte der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, hier sei das letzte Wort noch nicht gesprochen. Gibt es eine sachliche und fundierte Antwort auf die Frage, wie künftig mit Schutzräumen für Frauen umgegangen werden soll? Wann genau greift eine geplante Ordnungsstrafe von 2.500 Euro für das Deadnaming einer Trans-Person? Wie sehr setzt das geplante Selbstbestimmungsgesetz Ärzte künftig unter Druck, schnell und unreflektiert Pubertätsblocker oder Hormone bei Jugendlichen zu verschreiben, so wie dies in anderen Ländern wie Großbritannien gerade für massive Klagewellen sorgt? Wie steht die Partei und die Bundesregierung generell zum Thema Pubertätsblocker, die nachweislich massive Neben- und Langzeitwirkungen aufzeigen, nachdem erst in dieser Woche das, von den Grünen geführte Bundesfamilienministerium einseitig und für manche werbend auf ihrem Online-Regenbogenportal Kindern Pubertätsblocker nahegelegt hat – auf die Risiken wird bis heute nicht hingewiesen. Wie will die Bundesregierung künftig mit Frauen umgehen, die sich nicht mehr in Saunen, Frauenhäuser, Sporteinrichtungen oder anderen, nach Geschlechtern getrennten Einrichtungen trauen, aus Angst, mit Trans-Personen mit männlichen Genitalien konfrontiert zu werden? Eine Situation, die für 13 Prozent aller deutschen Frauen allein deswegen belastend werden könnte, weil sie nach Angaben von Terre des Femmes sexualisierte Gewalt wie eine Vergewaltigung erlebt haben. Wird die Bundesregierung die Erfahrungen anderer Länder mit ähnlichen Selbstbestimmungsgesetzen in ihre Entscheidungen mit einbeziehen, nachdem Länder wie Großbritannien oder Schweden gerade massiv zurückrudern und die bestehenden Gesetze wahrscheinlich überarbeiten wollen? Wird es künftig möglich sein, dass Jugendliche ohne eine zwingend notwendige ärztliche Beratung den Weg einer Transition beginnen? Können sich Ärzte im Sinne des Verbots einer Konversionstherapie demnächst strafbar machen, wenn sie der Selbstdiagnose eines Jugendlichen mit Transitionswunsch nicht entsprechen wollen?

Sicherlich würden sich einige dieser Fragen zur Beruhigung vieler kritischer Stimmen vielleicht sachlich beantworten lassen können, sodass noch mehr die Frage im Raum steht, warum diese Chance inmitten dieser hitzigen Debatten nicht genutzt wird? Oder wird von einigen strikten Befürwortern des Selbstbestimmungsgesetzes befürchtet, dass es bei genauer Betrachtung keine fundierten Antworten gibt? Die Debatten um das neue Selbstbestimmungsgesetz gehen indes in voller Lautstärke weiter und wenn die Erfahrungen der letzten Wochen eines gezeigt haben, dann, dass es nicht mehr ausreicht, kritische Stimmen pauschal als rechts und transphob zu diffamieren, um ein Schweigen zu erzwingen. Auch die Verweigerung der Diskussion bei der 48. Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen wird die Kritiker nicht zum verstummen bringen. Am Ende lässt sich so bereits jetzt festhalten, dass die Partei mit Blick auf die LGBTI*-Community eine große Chance vertan hat.  

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